Im Versicherungsrecht spielt die Frage, wann und in welchem Umfang ein Versicherer nach einem Unfall zur Leistung verpflichtet ist, eine zentrale Rolle.. Beantragt ein Versicherter nach einem Unfall die Zahlung einer Invaliditätsleistung, ist der Versicherer nach § 187 Abs. 1 VVG verpflichtet, innerhalb von drei Monaten nach Eingang des Leistungsantrags und der notwendigen Unterlagen zu erklären, ob und in welchem Umfang er leistet. Die Entscheidung über die Invaliditätsleistung erfolgt zunächst im Rahmen der sogenannten Erstbemessung, die später – bei veränderten gesundheitlichen Verhältnissen – im Wege einer Neubemessung überprüft werden kann.
Die Erstbemessung in der privaten Unfallsversicherung
Erforderliche Unterlagen und Nachweise
In den Versicherungsbedingungen der privaten Unfallversicherungen wird näher konkretisiert, was unter erforderlichen Unterlagen zu verstehen ist. Hierzu gehören zum Beispiel Nachweise über
- den Unfallhergang,
- die Unfallfolgen und
- den Abschluss des Heilverfahrens.
Zu Letzterem hat die versicherte Person gemäß den einschlägigen Versicherungsbedingungen den Nachweis zu erbringen, dass ihre unfallbedingte medizinische Behandlung (die Versicherungsbedingungen sprechen hier vom „Heilverfahren“) abgeschlossen ist.
Allerdings bedeutet „abgeschlossen“ hier nicht, dass alle Behandlungen vollständig beendet sein müssen. Das wäre auch unangemessen, denn immerhin können sich unfallbedingte Behandlungsmaßnahmen je nach Intensität des Gesundheitsschadens über Monate oder Jahre hinziehen.
Abschluss des Heilverfahrens: Verzögerungstaktiken der Versicherer
Erforderlich, aber auch ausreichend ist, dass das Heilverfahren soweit abgeschlossen ist, wie es für die Feststellung des Invaliditätsgrades notwendig ist. Gleichwohl nutzen viele Versicherer besagte Klausel als Vorwand dafür, die Leistungsprüfung hinauszuzögern. Sie teilen dem Versicherten dann freundlich mit, dass er sich wieder melden soll, wenn die Heilbehandlung abgeschlossen ist. Dabei wird jedoch häufig verschwiegen, dass die Versicherungsbedingungen nicht das vollständige Ende aller medizinischen Maßnahmen verlangen.
Oder sie teilen alternativ mit, dass sie sich selbst nach einem gewissen Zeitraum, üblicherweise drei Jahre nach dem Unfall, wieder beim Versicherten melden werden. Hintergrund dieser üblichen Vorgehensweise ist, dass sich der unfallbedingte Gesundheitszustand im Laufe der Zeit durch die Heilbehandlung wieder bessern kann. Wenn erst nach einiger Zeit eine Bemessung des Invaliditätsgrades vorgenommen wird, so fällt dieser dann womöglich niedriger aus, als er bei frühzeitiger Bemessung ausgefallen wäre. Der Versicherer ist dann nicht auf sein Neubemessungsrecht angewiesen und muss etwaige Überzahlungen nicht zurückfordern (hierzu weiter unten mehr).
Widerspruch gegen Erstbemessung
Für den Fall, dass sich die gesundheitlichen Unfallfolgen nicht verschlimmert haben, der Versicherte die Höhe des vom Versicherer festgestellten Invaliditätsgrades aber schon im Ausgangspunkt für zu niedrig erachtet, kann er auch gegen die Erstbemessung Widerspruch einlegen.
Für einen solchen Widerspruch sehen Gesetz und Versicherungsbedingungen keine besondere Frist vor (allenfalls die 3-jährige Verjährungsfrist ist natürlich zu beachten).
Auch hier besteht jedoch das Risiko, dass im Rahmen der erneuten Überprüfung ein noch geringerer Invaliditätsgrad festgestellt wird als der, gegen den der Versicherte Widerspruch eingelegt hat. Auch in diesem Fall muss die versicherte Person die festgestellte Überzahlung zurückzahlen.
Neubemessung
Abgrenzung und Zweck der Neubemessung
Mit dem aufgezeigten Vorgehen durchbricht der Versicherer allerdings die klare Abgrenzung zwischen einer zügigen Erstbemessung und der in den Versicherungsbedingungen eingeräumten Möglichkeit einer Neubemessung/Nachbemessung, die bis zum Ablauf von drei Jahren nach dem Unfall möglich ist. Die Möglichkeit einer Neubemessung/Nachbemessung, die beiden Vertragsparteien zusteht, dient dem Umstand, dass sich der Gesundheitszustand im Laufe der Zeit ändern kann.
Recht auf Neubemessung für beide Vertragsparteien
Wird der Gesundheitszustand im Laufe der Zeit schlechter, so hat die versicherte Person ein erhebliches Interesse an einer Neubemessung des Invaliditätsgrades.
Der Versicherer ist deshalb nach § 188 Abs. 2 VVG verpflichtet, den Versicherten bei der Mitteilung über die Leistung gleichzeitig darüber zu informieren, dass er dieses Recht auf Neubemessung hat und innerhalb eines Zeitraums von 3 Jahren nach dem Unfall ausüben muss.
Unterlässt der Versicherer diesen Hinweis, kann er sich später nicht darauf berufen, dass das Verlangen des Versicherten auf Neubemessung nicht fristgemäß erfolgt ist. Der Versicherte ist in diesem Fall nicht an eine bestimmte Frist gebunden und kann die Neubemessung grundsätzlich jederzeit verlangen. Grenzen bestehen lediglich dort, wo die Ausübung dieses Rechts gegen den Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) verstoßen würde. Darüber hinaus ist die stets geltende Verjährungsfrist zu beachten.
Umgekehrt hat natürlich der Versicherer ein Interesse an der Neubemessung, wenn sich der Gesundheitszustand seines Versicherten im Laufe der Zeit voraussichtlich verbessern wird. Der Versicherer hat dieses Recht allerdings nur, wenn er es sich bereits bei seiner ersten Leistungsentscheidung vorbehalten hat.
Folgen der Neubemessung
Stellt sich im Rahmen einer Neubemessung heraus, dass der Invaliditätsgrad höher ist, als bei der Erstbemessung festgestellt, dann hat der Versicherte Anspruch auf weitere Leistungen.
Stellt sich hingegen heraus, dass der Invaliditätsgrad geringer ist als bei der Erstbemessung angenommen, so muss die versicherte Person die Überzahlung zurückzahlen. Nur unter engen Voraussetzungen, nämlich wenn das Rückzahlungsverlangen gegen Treu und Glauben verstößt, kann dem Versicherer dieser Anspruch verwehrt bleiben.
Fazit
In der privaten Unfallversicherung bildet die Erstbemessung die Grundlage für die Entscheidung über die Invaliditätsleistung, während die Neubemessung dazu dient, spätere Veränderungen des Gesundheitszustands zu berücksichtigen. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass viele Versicherer die Erstbemessung verzögern oder die unfallbedingten Einschränkungen zu gering ansetzen. Auch bei der Neubemessung kommt es häufig zu Auseinandersetzungen darüber, ob sich der Zustand tatsächlich verbessert oder verschlechtert hat und welche rechtlichen Folgen dies hat. Für Versicherte ist es daher oft schwer zu erkennen, wann ein Vorgehen gegen die Erstbemessung oder ein Antrag auf Neubemessung sinnvoll und erfolgversprechend ist.
Wenn Sie unsicher sind, ob Ihr Versicherer die Invaliditätsleistung korrekt bemessen hat oder ob eine Neubemessung Ihres Invaliditätsgrades sinnvoll ist, lassen Sie Ihre Ansprüche fachanwaltlich prüfen. Eine frühzeitige rechtliche Einschätzung kann verhindern, dass Ihnen wertvolle Leistungen entgehen.
Ich bin Fachanwältin für Versicherungsrecht und unterstütze Sie engagiert, Ihre Ansprüche gegenüber dem Versicherer durchzusetzen. Kontaktieren Sie mich gerne für ein Erstgespräch.
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